„Dreifach ist der Schritt der Zeit: Zögernd kommt die Zukunft angezogen,
pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, ewig still steht die Vergangenheit.“ Friedrich Schiller
Fliegen und nie schlafen
Ein Blick in die Zukunft / VON CHRISTIANE WOLFF
Shakespeare, Strindberg, Kleist, Schiller, Molière Kafka und etliche Filminszenierungen liegen schon fast lang zurück, das erste Kinderstück ist Geschichte, die 80 Plätze der ersten Tribüne wurden auf 250 aufgestockt, der Theatersommer ist groß geworden.
Am Anfang hatte der Theatersommer die Grundstruktur einer freien Gruppe. Die Keimzelle allen kreativen Theaters, unabhängig von einem übermächtigen bürokratischen Apparat mit seinen Hierarchien, unabhängig von der mitunter mächtigen Routine unkündbarer Schauspieler/innen und unabhängig von der bisweilen vorhandenen Verantwortungslosigkeit tingelnder Regisseur/innen. Getragen von dieser Unabhängigkeit, machte der Theatersommer 1990 ein Wagnis, suchte Mitstreiter, die bereit waren sich ebenso zu identifizieren, sich kräftemäßig in jeder Hinsicht auszubeuten, über das Rollenverständnis des angestellten Schauspielers hinaus mit zu denken, mit zu erschaffen, mit zu kämpfen für die Verwirklichung eines Theatertraums. Der Theatersommer konnte sich sowohl das Wagnis als auch die Unabhängigkeit leisten, er war ja noch klein.
Aber die Unabhängigkeit wäre dort zu Ende gewesen, wo der Misserfolg begonnen hätte. Das Gespenst des Misserfolgs forderte einen ständigen inneren und äußeren Spagat zwischen den Ansprüchen an die Kunst und den Ansprüchen an die hochgerechneten Zuschauerzahlen, die zum finanziellen „Überleben“ notwendig waren.
Die steigenden Zuschauerzahlen waren es, die das Fortbestehen, den Fortschritt und somit noch mehr Kreativität im Theatersommer ermöglichten. Der Anspruch, an den in Zuschauerzahlen ablesbaren Erfolg, war das von Beginn an mitbestimmende Diktat, dem sich der Theatersommer auch immer verpflichtet fühlte. Das Diktat des zahlenmäßigen Erfolges nahm Einfluss auf die Stückauswahl, auf die Wahl der Schauspieler/innen und auf die Phantasie und hatte somit auch oft bremsenden Einfluss auf die Kreativität. Ein Paradoxon! Der wachsende Erfolg ermöglichte den strukturell notwendigen Aufbau und schränkte die Freiheit der Spielplangestaltung gleichermaßen ein.
Aber wie geht es weiter, wenn die Zuschauerzahlen allein schon aus Kapazitätsgründen nicht mehr zu steigern sind? Was sind in den nächsten Jahren die Ziele des Theatersommers? Darf sich der Theatersommer seines Erfolges so sicher sein, dass er sich die Freiheit nehmen kann, an seine Wurzeln zurückzudenken – zurück in die Zeit der Wagnisse – und Projekte anvisiert, mit denen erfahrungsgemäß nicht so viele Zuschauerzahlen zu machen sind wie mit anderen, und deren Verwirklichung eine Menge Wagemut erfordert? Oder gefährdet der Theatersommer damit erneut seine Existenz?
„Small ist beautiful“ heißt ein erster Schritt in die vielleicht richtige Richtung. „Small ist beautiful“ – eine Vorgabe, die auch gesellschaftspolitisch vielleicht richtungsweisenden Charakter haben könnte. Schon bei dem Projekt „Garten von Godot“ waren die Zuschauerzahlen nicht das Ziel des Erfolges und mit der Wiederaufnahme dieser künstlerisch höchst wertvollen Produktion setzt der Theatersommer ein Zeichen. Ebenso mit der Inszenierung von John von Düffels „Alle 16 Jahre im Sommer“. Erstmals steht ein zeitgenössischer Autor eines relativ unbekannten Stücks in einer Produktion für die große Bühne auf dem Spielplan. Auch „Die Wand“, ein Roman-Monolog von Marlen Haushofer, ist kein süffiger „Hochsommerstoff“, sondern ein nachdenkliches Erzählstück, das zum Hinhorchen auffordert. Die Produktion setzt die mit „Garten von Godot“ begonnene Reihe „Small is beautifull“ fort.In diesem „Small“ liegt nicht nur eine gesellschaftspolitische Chance, sondern auch eine künstlerische Vision. „Kleines“ erfordert mehr Aufmerksamkeit um wahrgenommen zu werden und diese zusätzliche Aufmerksamkeit wird von dem wichtigsten Mitarbeiter im Theater erwartet: dem Publikum.
Wird das Theatersommer-Publikum mitgehen? Wenn ja, dann schenkt es dem Theatersommer mit seinem Vertrauen eine Zukunftsperspektive, die auch Wagnisse in einem größeren Rahmen ermöglichen wird. Dann wird das Publikum sich auch dem Hinhorchen öffnen, wenn es um moderne Autoren geht, um gesellschaftspolitisch kritische Stoffe, um ungewohnte Kost, um Chaos der Blickwinkel, um Überraschung und Verwirrung der Gewohnheiten. Und an den Theatersommer wird das Publikum damit die Forderung stellen, seinen Schatz an Erfahrung neu in den Dienst der Fantasie zu stellen und unbekanntes Terrain zu erobern – gedanklich, inhaltlich, emotional und formal.
Sicherlich wird es weiterhin notwendig sein, die Wagnisse der Zukunft durch unterhaltende Genussstückchen auszugleichen, bei denen allein schon durch Titel und Stückauswahl hohe Zuschauerzahlen zu erwarten sind. Es bleibt unser Anspruch, auch mit diesem Genre die Herzen des Publikums zu erobern.
Mut darf nie versiegen, auch nicht die Hoffnung, Wesentliches schaffen zu können, das nicht überflüssig ist, sondern gebraucht wird wie eine Nahrung für die Seele. Wollen wir hoffen, dass uns dies mit Fantasie, Kreativität und Originalität auch weiterhin erfolgreich gelingen wird, ohne dem Glauben an das Wagnis die Treue zu brechen. Wollen wir hoffen, dass uns nie der Mut verlässt, das Wagnis zu denken, zu fühlen, aufzusuchen und in die Tat umzusetzen. Denn Wagnisse kann sich die Gesellschaft heute kaum mehr leisten. Der Rahmen ist eng, die Fallhöhe groß – je höher man steigt, um so tiefer kann man fallen! Da hat es keinen Sinn, sich festzuhalten!
Fliegen ist die einzige Alternative. Fliegen und nie schlafen, das sind die Tugenden, in denen sich die Samurais des Theaters immer geübt haben. Wollen wir hoffen, dass wir noch lange den Mut haben, uns an diese Tugenden zu erinnern und weiter versuchen werden zu fliegen.
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